M. Ries u.a. (Hrsg.): Hinter Mauern

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Titel
Hinter Mauern. Fürsorge und Gewalt in kirchlich geführten Erziehungsanstalten im Kanton Luzern


Herausgeber
Ries, Markus; Valentin, Beck
Erschienen
Zürich 2013: Theologischer Verlag Zürich
Anzahl Seiten
378 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Kevin Heiniger

Als wegweisend und exemplarisch darf das Bemühen der römisch-katholischen Kirche im Kanton Luzern gelten, das in kirchlich geführten Luzerner Heimen begangene Unrecht an fremdplatzierten Kindern durch ein Team von Experten umfassend aufarbeiten zu lassen. Bei wissenschaftlichen Untersuchungen zu Missbrauchsvorwürfen in Erziehungsinstitutionen, wie sie bereits in verschiedenen europäischen Staaten in den vergangenen Jahren durchgeführt wurden, muss man sich stets bewusst sein, dass sie die Thematik quantitativ und qualitativ kaum erschöpfend behandeln können. - Zu mannigfaltig und individuell ist das während Jahrzehnten praktizierte institutionalisierte Unrecht und sind die jeweiligen Schicksale, die dahinter stehen. Aber die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Vorkommnissen und die Publikation der Ergebnisse verleihen dem lange Zeit verborgen gebliebenen Missbrauch, der mit Schweigen belegten Gewalt eine Dimension des gesellschaftlichen Eingeständnisses und damit eine bislang verwehrte Realität. Die vorliegende Studie ist in diesem Sinn das Bekenntnis der kirchlichen Institution zu einer Schuld gegenüber fremdplatzierten Kindern, der sich aber auch - wie etwa Johannes J. Frühbauer in seinem Beitrag hervorhebt - die involvierten staatlichen Fürsorgeinstanzen nicht entziehen können. Wenn etwa Kantonalbehörden aus Kostengründen die Heimbetreuung pädagogisch ungeschulten Ordensleuten überliessen, wenn die Heimatgemeinde aus finanziellen Erwägungen die Kinder einer armengenössigen Familie lieber in Erziehungsanstalten unterbrachte, als die intakte Familie zu unterstützen, oder wenn beispielsweise nur schon die uneheliche Geburt als Grund für eine Heimeinweisung reichte, so stehen diese Sachverhalte für eine gesamtgesellschaftliehe Problemlage, die es im Rahmen einer solchen Untersuchung ebenso in den Blick zu nehmen gilt. Als umfassend kann die Studie zu Gewalt und Missbrauch in Luzerner Kinderheimen insofern bezeichnet werden, als sie mit grösster Sorgfait diesen unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Aspekten Rechnung trägt.

Loretta Seglias folgt im Einleitungskapitel den historischen Entwicklungslinien der Heimerziehung in der Schweiz von Pestalozzi bis zur Heimkampagne um 1970. In Anlehnung an den 2012 im Auftrag der Luzerner Regierung veröffentlichten Projektbericht von Martina Akermann, Markus Furrer und Sabine Jenzer vermutet Seglias, dass sich die thematische Besetzung des Themas Heimerziehung durch die 1968er-Bewegung als hemmend erwies für die spätere politische und wissenschaftliche Aufarbeitung der Missstände. Erst die Emanzipation der Thematik von politischen Positionen ermöglicht objektive Untersuchungen, wie sie in den vergangenen 15 Jahren vermehrt stattfinden. Der genannte Bericht selber ist als Teil dieser Entwicklung zu verstehen und hatte zum Ziel, Vorkommnisse in den Kinderheimen in der Stadt und im Kanton Luzern zu untersuchen. Er bietet einen Überblick über die Luzerner Heimlandschaft, wo in mindestens zehn der 15 relevanten Erziehungsinstitutionen Ordensleute arbeiteten, und bildet damit die Grundlage der hier zu besprechenden Publikation.

Die Betroffenen der institutionellen Missstände, die ehemaligen Heimkinder, kommen im Beitrag von Stephanie Klein ausführlich zu Wort. Als Datengrundlage dienten 30 Oral-History-Interviews, die im Rahmen der von Furrer geleiteten Untersuchung erstellt wurden. Thematisch gegliedert geben teilweise ausführlich zitierte Passagen Auskunft über den Bezug zum Elternhaus, über den Heimalltag (Zeitstruktur, Essen, Kleidung etc.), über die sozialen Netzwerke im Heim auch im Zusammenhang mit Diskriminierungen, über unterschiedliche Strafpraktiken, über sexualisierte Gewalt und sexuellen Missbrauch und nicht zuletzt über die Nachwirkungen auf das Leben nach dem Heimaufenthalt. Der Alltag etwa in den Erziehungsheimen Rathausen und St. Georg in Knutwil, in den Kinderheimen Mariazell und Malters sowie im Waisenhaus an der Baselstrasse Luzern war - in Anlehnung an eine klösterliche Tagesstruktur - geprägt von starker Religiosität, täglichen Messen und regelmässig stattfindenden Beichten. In den überwiegenden Fällen sind es Repräsentanten dieses stark hierarchisierten, religiös legitimierten Ordnungssystems, das heisst Priester und Ordensfrauen, die für Missstände in den Heimen verantwortlich waren. Auf diese schwierig aufzulösende Double-bind-Situation weist Klein unter anderem hin.

Die institutionellen Netzwerke und innerkirchlichen Strukturen beleuchten auch die Herausgeber Markus Ries und Valentin Beck. In ihrem Beitrag analysieren sie die institutionellen und sozialen Mechanismen sowie den ideologischen Unterbau, die während Jahrzehnten die Fortführung missbräuchlicher Praktiken in den Heimen gewährleisteten. Exemplarisch erscheint dabei etwa die Haltung des damaligen Basler Bischofs Franz von Streng, der noch 1956 seine Mitbrüder zur Verschwiegenheit anhielt, sollten ihnen pädosexuelle Verstösse eines Ordensbruders zu Ohren kommen. Der Schutz der kirchlichen Institution vor öffentlichem Skandal und zivilen Justizverfahren war dem Kirchenoberhaupt offenbar wichtiger als das Wohlergehen der anbefohlenen Kinder und Jugendlichen.

Einen diskursgeschichtlichen Zugang wählten Sylvia Bürkler, Daniel Goldsmith und Werner Hürlimann, um der Körperstrafe als gesamtgesellschaftlichem Phänomen insbesondere auch inden Volksschulen nachzugehen. Am Beispiel pädagogischer Lehrbücher des 19. und 20. Jahrhunderts lässt sich allmählich eine Verschiebung des professionellen Diskurses von der Pädagogik hin zur Psychologie feststellen. Mit der Etablierung psychologischer Theorien im Bereich der Pädagogik und deren Erkenntnissen hinsichtlich körperlicher Züchtigung als Disziplinierungsmittel sowie ihrer Negativwirkung auf das (Lern-)Verhalten der Kinder geriet die Körperstrafe im Laufe des 20. Jahrhunderts mehr und mehr in Verruf.

Aus praktisch-theologischer Sicht fragt Klein in einem weiteren Beitrag nach vergangenen und gegenwärtigen, latent fortwirkenden Gewaltstrukturen in der katholischen Kirche sowie nach Möglichkeiten einer Veränderung. Mit Fokus auf sexualisierte Gewalt und sexuellen Missbrauch wählt Klein zwei Wege, um den Fortbestand kirchlicher Missbrauchsstrukturen darzustellen: Zum einen geht sie auf die kirchliche Argumentations- und Sichtweise ein, welche die Täter und ihre Schuld fokussiert. Zum andern nimmt sie anhand eines differenzierten soziologischen Macht- und Gewaltbegriffs die Betroffenenperspektive ein, wobei das Täter-Opfer-Verhältnis sowie die den Täter schützenden institutionellen «Machtund Schweigekartelle» als Stichworte hervorzuheben sind.

In seinen oben bereits erwähnten theologisch-ethischen Überlegungen zu Schuld und Verantwortung im Zusammenhang mit sexuellen Übergriffen in kirchliehen Einrichtungen orientiert sich Frühbauer unter anderem an einem Verantwortungsbegriff, der durch eine dreistellige Relation gekennzeichnet ist: Wer ist für wen (oder was) nach we/c/zen .Kriterien verantwortlich? Zur Beantwortung der Schuldfrage scheint dies eine angemessene Herangehensweise zu sein.

Eine «Wiedergutmachung» ist selbstredend auch mit einer solchen Publikation nicht möglich - das Unrecht ist geschehen, die Betroffenen haben teilweise jahrzehntelang gelitten und tun es womöglich noch immer. Die Untersuchung benennt jedoch klar, wo Fehler gemacht wurden und was zur künftigen Vermeidung derselben unternommen werden kann, wo strukturelle und systemische Veränderungen auch heutzutage noch angestrengt werden müssen. Die Publikation ist in diesem Sinn ein starkes Zeichen der katholischen Kirche im Kanton Luzern, dass sie ihre Verantwortung gegenüber den Betroffenen ernst nimmt, und damit ein erster wichtiger Schritt zur Sühne.

Zitierweise:
Kevin Heiniger: Rezension zu: Markus Ries, Valentin Beck (Hg.), Hinter Mauern. Fürsorge und Gewalt in kirchlich geführten Erziehungsanstalten im Kanton Luzern, Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 2, 2016, S. 321-323.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 2, 2016, S. 321-323.

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